OLG Hamm v. 16.7.2025 - 4 UF 213/24

Lebensbedrohliche Misshandlung eines Säuglings unter elterlicher Obhut

Erleidet ein wenige Wochen alter Säugling in der elterlichen Obhut schwerste lebensbedrohende körperliche Misshandlungen (hier: neunfacher Rippenbruch), deren Umstände nicht aufgeklärt sind, ist mangels anderer Alternativursachen davon auszugehen, dass hierfür die Eltern auf die ein oder andere Art verantwortlich sind. Auch wenn ungeklärt bleibt, wer von beiden Kindeseltern dem Kind die Verletzungen zugefügt hat, als auch in welcher Überforderungssituation dies geschah, besteht weiterhin ein wesentliches Wiederholungsrisiko hinsichtlich einer lebensbedrohlichen Misshandlung des Kindes.

Der Sachverhalt:
Das 2023 geborene betroffene Kind Y ist aus der nichtehelichen Beziehung der beteiligten Kindeseltern hervorgegangen. Die Kindesmutter ist allein sorgeberechtigt. Nach Darstellung der Kindeseltern soll sich Y in der Nacht auf den 14.6.2023 ungewöhnlich verhalten haben. Am 14.6.2023 stand die U3 bei der Kinderärztin an, die auf die Auffälligkeiten, insbesondere Knackgeräusche im Brustkorb des Kindes, hinwies und das wegen des Verdachts auf eine Infektion in die Kinderklinik einwiesen. Das Krankenhaus soll von ihr telefonisch darauf hingewiesen worden sein, "dass da etwas nicht stimme".

Y wurde in der Kinderklinik auf den Verdacht einer Säuglingsinfektion behandelt, aufgrund von Auffälligkeiten dann am Folgetag geröntgt, wobei sich einzelne Rippenbrüche zeigten. Am 16.6.2023 informierte die Klinik das Jugendamt, weil bei Y ein lebensbedrohlicher Zustand nach Reihenfraktur von insgesamt neun Rippen mit Blutung in den Thorax festgestellt worden war, die nach Auffassung der Ärzte nur durch eine ganz massive Gewaltanwendung hervorgerufen sein konnte. Da die von den Kindeseltern angegebenen möglichen Unfallereignisse nach Auskunft der Ärzte nicht ausreichen würden, um die massiven Verletzungen hervorzurufen, nahm das Jugendamt das Kind am 27.6.2023 in Obhut. Kurz darauf konnte Y aus der Klinik entlassen werden. Die Kindeseltern lebten zeitweise nicht mehr zusammen, da die Kindesmutter herausgefunden hatte, dass der Kindesvater sie rund ein halbes Jahr mit einer anderen Frau betrogen hatte. Zwischenzeitlich erklärten die Kindeseltern, wieder zusammen zu leben. 

Im parallel verlaufenen Strafverfahren wurde durch die Staatsanwaltschaft ein rechtsmedizinisches Gutachten eingeholt. In diesem kamen die Sachverständigen zu dem Ergebnis, dass alle seitens der Eltern vorgebrachten Erklärungsversuche nicht dazu geeignet sind, das bei dem Kind vorliegende Verletzungsbild zu verursachen. Da eine Täterschaft eines Elternteils nicht mit der für eine Verurteilung notwendigen Sicherheit festgestellt werden konnte, stellte die zuständige Staatsanwaltschaft das Verfahren nach § 170 Abs. 2 StPO ein. Die Kindeseltern sind der Ansicht, dass die Ursache für die massiven Verletzungen des Kindes nicht feststellbar sei, und daher für sie die Unschuldsvermutung gelte. Das Kind müsse der Kindesmutter zurückgeben werden. Es liege kein beweisbares Fehlverhalten der Kindeseltern vor. Das Gutachten der Sachverständigen sei nicht überzeugend, es weise Ungenauigkeiten auf, die auf eine nicht sorgfältige Erstellung schließen ließen. Zudem stünden mildere Maßnahmen zur Verfügung.

Das AG entzog der Kindesmutter das Recht zur Beantragung von Hilfen zur Erziehung gem. §§ 27 ff SGB VIII sowie von Eingliederungshilfen nach § 35a SGB VIII, die Gesundheitsfürsorge, das Aufenthaltsbestimmungsrecht, sowie das Recht zur Regelung der schulischen Angelegenheiten für Y gem. den §§ 1666, 1666a BGB und übertrug diese Rechte auf das Jugendamt als Ergänzungspfleger. Die Beschwerde der Kindesmutter hatte vor dem OLG keinen Erfolg.

Die Gründe:
Das AG hat der Kindesmutter zu Recht Teilbereiche der elterlichen Sorge gem. §§ 1666, 1666a BGB entzogen.

Nach diesen Vorschriften kann u.a. bei Gefährdung des Kindeswohls durch missbräuchliche Ausübung der elterlichen Sorge oder durch unverschuldetes Versagen der Eltern, wenn diese nicht in der Lage sind, die Gefahr abzuwenden, im Rahmen der Verhältnismäßigkeit die elterliche Sorge ganz oder teilweise entzogen werden. Eine Kindeswohlgefährdung i.S.d. § 1666 BGB setzt dabei eine gegenwärtige, in solchem Maß vorhandene Gefahr voraus, dass sich bei der weiteren Entwicklung der Dinge eine erhebliche Schädigung des geistigen, seelischen oder körperlichen Wohls des Kindes voraussehen lässt.

Vorliegend ist eine Kindeswohlgefährdung i.S.d. § 1666 BGB gegeben, die schon zu einer Schädigung des Kindes geführt hat. Denn das Kind ist lebensgefährlich verletzt worden, wobei mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nur ein Misshandlungsgeschehen dafür in Betracht kommt. Da diese Schädigung im Rahmen der Betreuung durch die Kindeseltern eintrat, war die erforderliche Eingriffsschwelle der hinreichenden Wahrscheinlichkeit einer Schädigung unzweifelhaft erfüllt.

Der Unwille oder die Unfähigkeit der Eltern, die Gefahr abzuwenden, ist ein zusätzliches, negatives Tatbestandserfordernis, in dem die Subsidiarität des staatlichen Handelns zum Ausdruck kommt. Damit soll verhindert werden, dass die Eltern übergangen werden; sie sollen vielmehr zur Selbsthilfe bewogen werden. Dabei steht der Unwille, die Gefahr abzuwenden, der Unfähigkeit gleich; erfasst werden also sowohl die Eltern, die willig, aber unfähig sind, als auch die, die unwillig, aber in der Lage sind, die Gefahr abzuwenden. Hiervon ist im Hinblick darauf, dass Y in der elterlichen Obhut schwerste körperliche Misshandlungen erlitten hat, deren Umstände nicht aufgeklärt sind, für die die Eltern indessen auf die ein oder andere Art verantwortlich sind, auszugehen. Dadurch, dass die Kindesmutter nicht sagen will oder dazu unfähig ist, wie die Verletzungen entstanden sind, zeigt sie ihre mangelnde Bereitschaft oder Fähigkeit zur Gefahrenabwehr.

Der vom AG ausgesprochene Teilentzug der elterlichen Sorge ist auch verhältnismäßig. Es besteht das Risiko einer erneuten Misshandlung von Y und es ist zweifelhaft, dass die eingeschränkte Erziehungsfähigkeit der Eltern ausreicht, dem erhöhten erzieherischen Bedarf des Kindes gerecht zu werden. Die Kindesmutter kann sich auch nicht darauf zurückziehen, dass für sie die Unschuldsvermutung besteht. Denn wegen des tatsächlich belegten Verletzungsbildes, dass mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit allein auf ein Misshandlungsereignis rückführbar ist, besteht die nicht auszuschließende Wiederholungsgefahr. Da es hier um lebensbedrohliche Verletzungen geht, ist die Wahrscheinlichkeit einer Wiederholung nicht so hoch anzusetzen, wie in anderen, nicht so gravierenden Fällen. Da völlig unklar ist, ob die Kindesmutter oder der Kindesvater dem Kind diese schweren Verletzungen zugefügt haben, ist nach Abwägung aller Umstände mit ziemlichen Sicherheit von einem Schadenseintritt im Falle der Rückführung in den Haushalt der Kindesmutter auszugehen, in dem nunmehr auch wieder der Kindesvater lebt.

Mehr zum Thema:

Rechtsprechung 
§§ 1666, 1666a BGB: Sorgerechtsentzug wegen Gefährdung eines Säuglings [LSe m. Anm. d. Red.]
OLG Köln vom 01.07.2025 - II-14 UF 76/25
FamRZ 2025, 1545

Kommentierung | BGB
§ 1666 Gerichtliche Maßnahmen bei Gefährdung des Kindeswohls
Döll in Erman, BGB, 17. Aufl. 2023
09/2023

Kommentierung | BGB
§ 1666a Grundsatz der Verhältnismäßigkeit; Vorrang öffentlicher Hilfen
Döll in Erman, BGB, 17. Aufl. 2023
09/2023

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Verlag Dr. Otto Schmidt vom 27.10.2025 17:41
Quelle: Justiz NRW

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