EuGH, C-147/24: Schlussanträge der Generalanwältin vom 4.9.2025

Aufenthaltsrecht eines drittstaatsangehörigen Elternteils eines Kindes mit inländischer Staatsangehörigkeit

Die Unionsbürgerschaft beinhaltet das Recht, die Freizügigkeit nicht in Anspruch zu nehmen. Die Unionsbürgerschaft eines unterhaltsberechtigten Minderjährigen kann für den drittstaatsangehörigen Elternteil unabhängig von dessen Aufenthaltsrecht in einem anderen Mitgliedstaat zu einem abgeleiteten Aufenthaltsrecht führen.

Der Sachverhalt:
Die Klägerin ist Drittstaatsangehörige und Mutter eines minderjährigen Kindes, das die Staatsangehörigkeit der Niederlande besitzt und immer dort gelebt hat. Der Ehegatte der Klägerin besitzt sowohl die Staatsangehörigkeit der Niederlande als auch die eines Drittstaats. Die Familie wohnt in den Niederlanden. Der Sohn der Klägerin hat einen Rückstand in der Sprech- und Sprachentwicklung und erhält deswegen besondere schulische Betreuung, während der Ehegatte der Klägerin gesundheitliche Probleme hat und Sozialleistungen erhält. Von 1999 bis 2014 wohnte die Klägerin in Spanien und besitzt noch immer einen gültigen Aufenthaltstitel für diesen Mitgliedstaat. Obwohl sie seit 2014 in den Niederlanden lebt, verfügt sie in diesem Mitgliedstaat nicht über einen Aufenthaltstitel.

Im Jahr 2020 beantragte die Klägerin auf der Grundlage der Unionsbürgerschaft ihres Sohnes nach Art. 20 AEUV die Ausstellung eines EU-/EWR-Dokuments zur Bescheinigung ihres abgeleiteten Aufenthaltsrechts in den Niederlanden. Die niederländischen Behörden lehnten die Ausstellung einer solchen Bescheinigung allerdings ab und forderten die Klägerin auf, unverzüglich nach Spanien zurückzukehren. Sie sind der Ansicht, dass Art. 20 AEUV nicht anwendbar sei, da das unterhaltsberechtigte Kind der Klägerin, das die Unionsbürgerschaft besitze, nicht verpflichtet werde, das Hoheitsgebiet der Union als Ganzes zu verlassen, sondern stattdessen zu seiner Mutter nach Spanien ziehen könne, wo diese ein Aufenthaltsrecht besitze.

V brachte die Angelegenheit vor das zuständige Bezirksgericht in den Niederlanden, das sich mit Vorlagefragen an den EuGH gewandt hat.

Die Gründe:
Nach dem Urteil des EuGH vom 8.3.2011 - C-34/09 (Ruiz Zambrano) sind Unionsbürger, die - wie der Sohn der Klägerin - die Freizügigkeit nie in Anspruch genommen und nie in einem anderen Mitgliedstaat der Union gewohnt sondern immer nur in dem gelebt haben, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzen, gleichwohl durch Art. 20 AEUV geschützt.

Die aus der Unionsbürgerschaft erwachsenden Rechte beinhalten auch das Recht, sich zu entscheiden, nicht in einen anderen Mitgliedstaat zu ziehen. In Fällen, in denen ein Kind, das die Unionsbürgerschaft besitzt, gezwungen wäre, das Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats zu verlassen, in dem es lebt, um seinen Elternteil mit Drittstaatsangehörigkeit zu begleiten, der diesen Mitgliedstaat verlassen muss, gewährt Art. 20 AEUV diesem Elternteil ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht in demjenigen Staat, dessen Staatsangehörigkeit das Kind besitzt. Damit wird das Recht des Kindes, die Freizügigkeit nicht in Anspruch zu nehmen, geschützt. Dies gilt auch dann, wenn ein Kind, das die Unionsbürgerschaft besitzt, nicht die Union als Ganzes verlassen müsste, sondern lediglich das Hoheitsgebiet seines eigenen Staates.

Vor einer Entscheidung über die Ausweisung eines Elternteils mit Drittstaatsangehörigkeit haben die zuständigen Behörden zu prüfen, ob das Kind in der Weise von seinem Elternteil abhängig ist, dass es gezwungen wäre, seinen Elternteil zu begleiten, wenn diesem ein Aufenthaltsrecht in dem Mitgliedstaat verweigert würde, dessen Staatsangehörigkeit das unterhaltsberechtigte Kind besitzt. Im Rahmen dieser Beurteilung haben die Behörden das Kindeswohl und das durch die Charta der Grundrechte der EU geschützte Recht auf Familienleben zu berücksichtigen.

Mehr zum Thema:

Aufsatz
Entwicklungen im europäischen Personen-, Familien- und Erbrecht 2023-2024
Christian Kohler / Walter Pintens, FamRZ 2024, 1413 

Rechtsprechung
Art. 20, 21 AEUV: Abgeleitetes Freizügigkeitsrecht des Elternteils eines Unionsbürgerkindes [LS.]
BVerwG vom 13.06.2024 - 1 C 5.23
FamRZ 2024, 1748

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Verlag Dr. Otto Schmidt vom 04.09.2025 15:20
Quelle: EuGH PM Nr. 110 vom 4.9.2025

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