Thüringer OLG v. 16.6.2025 - 1 WF 38/25
Befangenheit wegen nicht eingeräumter Gelegenheit zur Stellungnahme vor Entscheidung über VKH-Antrag
Der Verstoß gegen die Vorgabe des § 76 Abs. 1 FamFG i.V.m. § 118 Abs. 1 Satz 1 ZPO, dem Gegner grundsätzlich vor der Entscheidung über einen Antrag auf Bewilligung von Verfahrenskostenhilfe Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben, kann eine Besorgnis der Befangenheit begründen.
Der Sachverhalt:
Im Verfahren 9 F 528/24 stellte die Mutter des 2009 geborenen Kindes E. beim AG - Familiengericht - den Antrag, ihr das alleinige Sorgerecht zu übertragen. Zudem stellte sie in der Antragsschrift den Antrag, ihr Verfahrenskostenhilfe (VKH) für das Verfahren zu gewähren.
Mit Beschluss vom 2.10.2024 bewilligte das AG der Kindesmutter VKH. Mit weiterem Beschluss vom 2.10.2024 bestellte es einen Verfahrensbeistand. Mit Verfügung vom selben Tage räumte das AG dem Kindesvater Gelegenheit ein, innerhalb von zwei Wochen zu dem Sorgerechtsantrag der Kindesmutter Stellung zu nehmen. Zudem forderte es das Jugendamt in dieser Verfügung auf, einen Bericht zu erstatten. Mit Schriftsatz vom 17.10.2024 teilte der Kindesvater mit, er beantrage die Abweisung des Sorgerechtsantrags der Kindesmutter. Zudem beantragte er, die Stellungnahmefrist bis zum 22.11.2024 zu verlängern. Dies bewilligte das AG.
Mit Schriftsatz vom 18.11.2024 lehnte der Kindesvater die zuständige Familienrichterin wegen Besorgnis der Befangenheit ab. Er warf ihr eine Bevorzugung der Kindesmutter und grobe Verfahrensfehler sowohl im Verfahren 9 F 528/24 als auch in den Verfahren 9 F 487/24, 5 F 544/23 und 9 F 289/20 vor. Die abgelehnte Familienrichterin äußerte sich dienstlich zu dem Ablehnungsantrag. Hierzu nahmen die Kindesmutter und der Kindesvater entsprechend Stellung.
Das AG wies den Ablehnungsantrag des Kindesvaters zurück. Auf die sofortige Beschwerde des Kindesvaters erklärte das OLG das Ablehnungsgesuch gegen die Richterin B. für begründet.
Die Gründe:
Nach § 6 Abs. 1 FamFG i.V.m. § 42 Abs. 1 ZPO kann ein Richter wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt werden. Dies setzt voraus, dass ein Grund vorliegt, der geeignet ist, Misstrauen gegen die Unparteilichkeit des Richters zu rechtfertigen. Nicht notwendig ist die tatsächliche Befangenheit. Es ist daher ohne Belang, ob der abgelehnte Richter im Verfahren tat sächlich voreingenommen ist. Vielmehr genügen Gründe, die vom Standpunkt einer vernünftigen Partei einen solchen Schluss nahelegen.
Rechts- und Verfahrensfehler begründen eine Besorgnis der Befangenheit allerdings lediglich ausnahmsweise. Das ist dann der Fall, wenn Gründe dargelegt werden, die dafür sprechen, dass die mögliche Fehlerhaftigkeit auf einer unsachlichen Einstellung des Richters gegenüber dem betroffenen Beteiligten oder auf Willkür beruht. Dies kommt etwa in Betracht, wenn der Richter die seiner richterlichen Tätigkeit gesetzten Grenzen missachtet oder wenn in einer Weise gegen Verfahrensregeln verstoßen wurde, dass sich bei den Beteiligten der Eindruck der Voreingenommenheit aufdrängen konnte. Eine solche Konstellation ist vorliegend dadurch gegeben, dass die abgelehnte Richterin der Kindesmutter VKH bewilligt hat, ohne zuvor dem Kindesvater nach § 76 Abs. 1 FamFG, § 118 Abs. 1 Satz 1 ZPO die Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben, ob er die Voraussetzungen für die Bewilligung von VKH für gegeben hält.
Es ist auch nicht ersichtlich, dass besondere Gründe, etwa eine besondere Eilbedürftigkeit, vorgelegen haben, die die Gewährung des rechtlichen Gehörs aus besonderen Gründen unzweckmäßig erschienen ist. Die abgelehnte Familienrichterin ist in ihrer - im Übrigen ausführlichen - dienstlichen Äußerung überhaupt nicht auf den im Ablehnungsantrag erhobenen Vorwurf eingegangen, sie habe entgegen § 118 Abs. 1 Satz 1 ZPO der Kindesmutter VKH bewilligt, ohne dem Kindesvater zuvor Gelegenheit zur Stellungnahme zu dem VKH-Gesuch zu geben. Die Richterin hat dem Kindesvater mit Verfügung vom 2.10.2024 Gelegenheit zur Stellungnahme zu dem Sorgerechtsantrag der Kindesmutter eingeräumt, jedoch hat sie bereits am selben Tag der Antragstellerin VKH bewilligt. Dies hat klar dem Sinn und Zweck des § 118 Abs. 1 Satz 1 ZPO widersprochen.
Da ihm vor der VKH-Bewilligung nicht das ihm durch Art. 118 Abs. 1 Satz 1 ZPO eingeräumte rechtliche Gehör gewährt worden ist, hatte der Kindesvater bei vernünftiger Würdigung aller Umstände Anlass, an der Unvoreingenommenheit der Familienrichterin zu zweifeln. Dabei kommt es nicht darauf an, ob die abgelehnte Richterin versehentlich oder bewusst der Kindesmutter die VKH bereits bewilligt hatte, bevor der Kindesvater Gelegenheit hatte, zu dem Sorgerechtsantrag und dem diesbezüglichen VKH-Gesuch Stellung zu nehmen.
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