BVerfG v. 9.4.2025 - 1 BvR 1618/24
Grenzüberschreitender Sorgerechtsfall: Verfassungsbeschwerde der Mutter in Deutschland erfolglos
Das BVerfG hat eine Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen, die sich gegen fachgerichtliche Beschlüsse in einem Sorgerechtsstreit zwischen geschiedenen Eltern richtete. Um das Sorgerecht für zwei ihrer insgesamt vier Kinder haben die Eltern sowohl in Deutschland als auch in Dänemark verschiedene gerichtliche Verfahren geführt, insbesondere um das Recht, den Aufenthaltsort der Kinder zu bestimmen. Es sind weder für die Beschwerdeführerin noch rechtlich belastende Wirkungen der deutschen Entscheidungen ersichtlich noch eine Verletzung von Grundrechten der Mutter durch diese Entscheidungen erkennbar.
Der Sachverhalt:
Die vorliegende Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen fachgerichtliche Beschlüsse in einem Sorgerechtsstreit zwischen geschiedenen Eltern. Aus der Ehe sind insgesamt vier Kinder hervorgegangen, die nach der Trennung zunächst im Haushalt der Beschwerdeführerin in Deutschland lebten. Der Vater ist wiederverheiratet und lebt mit seiner neuen Ehefrau in Dänemark. Für die beiden in den Ausgangsverfahren betroffenen Kinder bestand ab dem Jahr 2015 eine Umgangsregelung, die einen Wochenendumgang des Vaters mit den beiden Kindern in Dänemark vorsah. Im Verlauf eines solchen Umgangs teilte der Vater der Beschwerdeführerin Ende August 2021 mit, dass er die beiden Kinder entgegen der Vereinbarung nicht nach Deutschland zurückbringen werde, sondern sie in Dänemark bleiben würden.
In der Folge kam es zu mehreren gerichtlichen Verfahren sowohl in Deutschland als auch in Dänemark, die jeweils das Sorgerecht bzw. die Herausgabe oder Rückführung der Kinder zum Gegenstand hatten. Obwohl das Zurückhalten der Kinder durch den Vater von den Gerichten als rechtswidrig bewertet wurde, erfolgte deren Rückführung nach Deutschland nicht, weil die zuständigen dänischen Gerichte Härtefallgründe nach dem maßgeblichen Haager Übereinkommen über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung (HKÜ) bzw. dem inhaltsgleichen dänischen Recht annahmen, die einer Rückführung entgegenstünden. In dem der Verfassungsbeschwerde zugrundeliegenden Hauptsacheverfahren zur elterlichen Sorge hat zunächst im September 2021 der Vater und im Oktober 2021 dann die Beschwerdeführerin die Übertragung des Sorgerechts jeweils auf sich allein bei dem Familiengericht in Deutschland beantragt. Die Erstellung eines vom Familiengericht beauftragten Sachverständigengutachtens kam nicht zustande, weil der Vater weder selbst an der Begutachtung mitwirkte noch die Begutachtung der Kinder zuließ.
In der Nacht auf den 1.1.2024 ereignete sich eine Entführung der betroffenen Kinder durch mehrere Personen. Die Kinder wurden von Dänemark nach Deutschland verbracht. Ab dem 2.1.2024 hatte die Beschwerdeführerin Kontakt mit den Kindern; spätestens seit dem 3. und bis zum 5.1.2024 hielten diese sich in ihrem Haushalt in Deutschland auf. Im Anschluss an diese Verbringung der Kinder sind sowohl in Dänemark als auch in Deutschland mehrere Verfahren zum Sorgerecht für die Kinder (fort)geführt worden. So übertrug das zuständige dänische Amtsgericht mit Beschluss vom 2.1.2024 einstweilen das Sorgerecht und das Aufenthaltsbestimmungsrecht auf den Vater. Es sei international zuständig, weil sich die Kinder seit August 2021 in Dänemark aufhielten und sie sich dort niedergelassen hätten.
In Deutschland übertrug das OLG am 5.1.2024 in einem Eilverfahren durch einstweilige Anordnung ebenfalls das Aufenthaltsbestimmungsrecht und das "Erziehungsrecht" für die betroffenen Kinder auf den Vater allein und ordnete deren sofortige Herausgabe an ihn an. Es sei für Eilmaßnahmen im einstweiligen Anordnungsverfahren nach dem hier maßgeblichen Art. 11 des Haager Kinderschutzübereinkommen (KSÜ) zuständig. Mit einem weiteren Beschluss vom 19.2.2024 stellte das OLG in dem Hauptsacheverfahren zur elterlichen Sorge wie zuvor bereits das Familiengericht die fehlende internationale Zuständigkeit deutscher Gerichte fest. Es sei davon auszugehen, dass die Kinder sich beide in ausreichender Form familiär und auch sozial in Dänemark integriert hätten.
Die Verfassungsbeschwerde der Beschwerdeführerin, mit der sie u.a. die Verletzung von Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG (elterliches Sorgerecht) und Art. 20 Abs. 3 i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG i.S.d. allgemeinen Justizgewährungsanspruchs geltend macht, hatte vor dem BVerfG keinen Erfolg.
Die Gründe:
Die Verfassungsbeschwerde ist teilweise unzulässig und teilweise unbegründet. Der Beschluss des OLG vom 19.2.2024 im Hauptsacheverfahren, mit dem es das Bestehen einer internationalen Zuständigkeit deutscher Gerichte für das Verfahren verneint hat, verletzt die Beschwerdeführerin nicht in Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten. Es hat weder ihr Elterngrundrecht aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG noch den allgemeinen Justizgewährungsanspruch aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG verletzt.
Entscheidungen inländischer Fachgerichte in Anwendung von Art. 7 KSÜ berühren das Elterngrundrecht. Wird - wie hier - die internationale Zuständigkeit verneint, kann ein Elternteil jedenfalls dann nicht mehr über den Aufenthalt des Kindes bestimmen sowie seine sonstigen Erziehungsrechte nicht wahrnehmen, wenn in einem anderen Vertragsstaat des Kinderschutzübereinkommens das Sorgerecht oder wesentliche Teile davon, wie vor allem das Aufenthaltsbestimmungsrecht, auf den anderen Elternteil übertragen worden sind. Die Auslegung und Anwendung von Art. 7 Abs. 1 Buchst. b) KSÜ durch das OLG beruhen nicht auf einer grundsätzlich unrichtigen Auffassung von der Bedeutung des Elterngrundrechts (Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG) oder vom Umfang seines Schutzbereichs. Die Annahme des OLG, der gewöhnliche Aufenthalt der Kinder liege in Dänemark, nachdem sie sich zum Entscheidungszeitpunkt bereits mehr als zwei Jahre dort aufgehalten hatten, begegnet keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Die dem zugrundeliegende Auslegung, dass der "gewöhnliche Aufenthalt" rein tatsächlich und nicht normativ bestimmt werden muss, kann sich auf höchstrichterliche Rechtsprechung zu dem entsprechenden Merkmal im Haager Übereinkommen stützen.
Verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden ist auch die Würdigung des OLG, die Kinder hätten sich i.S.d. Art. 7 Abs. 1 Buchst. b) KSÜ "eingelebt". Das OLG hat neben dem Zeitmoment von über zwei Jahren Aufenthaltsdauer in Dänemark bei der familiären und sozialen Integration der Kinder nachvollziehbar darauf abgestellt, dass sich die Bindungen zum Vater intensiviert hätten, die Kinder einen geregelten Alltag mit der neuen Familie sowie einen durchgängigen Aufenthalt an einem Wohnort in Dänemark hätten und eine zeitnahe Einschulung der Kinder nach deren Zurückhalten erfolgt sei; Freizeitaktivitäten mit neuen Freunden fänden statt. Beide Kinder sprächen auch Dänisch. Sofern das OLG den nachhaltig und nachvollziehbar geäußerten Kindeswillen berücksichtigt, nicht zurückkehren sondern beim Vater und den dortigen Familienangehörigen in Dänemark leben zu wollen, zieht es ebenfalls ein anerkanntes Auslegungskriterium heran, das den Grundrechten der Kinder Rechnung trägt.
Auch der allgemeine Justizgewährungsanspruch als Bestandteil des Rechtsstaatsprinzips i.V.m. den Grundrechten, insbesondere Art. 2 Abs. 1 GG, ist nicht verletzt. Hier folgen aus dem allgemeinen Justizgewährungsanspruch keine weitergehenden Anforderungen an den angegriffenen Beschluss des OLG vom 19.2.2024 und an die Verfahrensgestaltung, als sie u.a. bereits aus dem Elterngrundrecht des Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG resultieren. Der angegriffene Beschluss des OLG beruht auch hinsichtlich der Verfahrensgestaltung nicht auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung des Elterngrundrechts der Beschwerdeführerin oder der wegen der Kindeswohlorientierung des Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG zu berücksichtigenden Interessen der betroffenen Kinder.
Soweit sich die Verfassungsbeschwerde gegen die im Eilverfahren ergangenen Beschlüsse des OLG vom 5.1. und 19.2.2024 richtet, ist sie ebenfalls unzulässig. Es ist nicht ausreichend dargelegt/ersichtlich, dass insoweit ein Rechtsschutzbedürfnis der Beschwerdeführerin besteht. Die Verfassungsbeschwerde geht nicht darauf ein, ob das erforderliche Rechtsschutzbedürfnis im Hinblick auf die vorläufige Sorgerechtsentscheidung besteht, obwohl aus mehreren Gründen Anlass bestanden hätte, sich dazu zu verhalten. Es liegen nämlich erhebliche Zweifel vor, ob die angegriffene vorläufige Sorgerechtsentscheidung noch Auswirkungen auf das fachrechtliche Sorgerecht und damit auf die durch Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG gewährleistete Erziehungsverantwortung der Beschwerdeführerin haben kann.
Mehr zum Thema:
Aufsatz
Entwicklungen im europäischen Personen-, Familien- und Erbrecht 2023-2024
Christian Kohler / Walter Pintens, FamRZ 2024, 1413
Aktionsmodul Familienrecht
Alles zum Familienrecht in einem Modul! In Kooperation mit Otto Schmidt, Gieseking, Wolters Kluwer und Reguvis stehen ausgewählte Kommentare, Handbücher und Zeitschriften in einer Datenbank zur Verfügung. Selbststudium nach § 15 FAO: Regelmäßig mit Beiträgen zum Selbststudium mit Lernerfolgskontrolle und Fortbildungszertifikat. Beratermodul Familienrechtliche Berechnungen: Unterhalt. Zugewinnausgleich. Versorgungsausgleich. 4 Wochen gratis nutzen!