EuGH v. 22.12.2022 - C-279/21

EuGH zur Familienzusammenführung: Dänische Vorschrift über Prüfung von Sprachkenntnissen als Voraussetzung rechtswidrig

Die dänische Rechtsvorschrift, nach der die Familienzusammenführung zwischen einem türkischen Arbeitnehmer, der sich rechtmäßig in Dänemark aufhält, und seinem Ehegatten an die Voraussetzung geknüpft wird, dass dieser Arbeitnehmer erfolgreich eine Prüfung ablegt, die ein bestimmtes Niveau dänischer Sprachkenntnisse bescheinigt, stellt eine rechtswidrige „neue Beschränkung“ dar. Sie kann nicht mit dem Ziel gerechtfertigt werden, eine erfolgreiche Integration des Ehegatten zu gewährleisten. Denn nach der dänischen Rechtsvorschrift ist weder die Berücksichtigung der eigenen Integrationsfähigkeit des Ehegatten noch anderer Faktoren vorgesehen, die die tatsächliche Integration des betreffenden Arbeitnehmers belegen.

Der Sachverhalt:
X reiste am 14. August 2015 in das dänische Hoheitsgebiet ein. Am 21. Oktober 2015 beantragte sie bei der dänischen Ausländerbehörde eine Aufenthaltserlaubnis zur Familienzusammenführung mit ihrem Ehegatten Y. Y ist türkischer Staatsangehöriger und verfügt über eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis in Dänemark, wo er sich seit dem 27. September 1979 aufhält.

Diesem Antrag zufolge hatte Y eine Ausbildung in dänischer Sprache absolviert. Diese Ausbildung habe u. a. technische Berechnungen, die Beschilderung von Straßenarbeiten, das Verständnis von Plänen, die Einführung in das Arbeitsfeld und Arbeitstechniken umfasst. Als türkischer Arbeitnehmer, der seit dem Jahr 1980, d. h. seit über 36 Jahren, in Dänemark u. a. als Maschinenbautechniker, als Servicemitarbeiter sowie als Verkaufsstellen- oder Lagerleiter berufstätig sei, sei er jedenfalls nicht verpflichtet, die in der fraglichen dänischen Rechtsvorschrift vorgesehene Voraussetzung einer bestandenen dänischen Sprachprüfung zu erfüllen. Des Weiteren wurde in dem Antrag angegeben, dass die vier erwachsenen Kinder von Y, seine Mutter und alle seine Geschwister in Dänemark lebten.

Mit Entscheidung vom 1. März 2016 lehnte die Ausländerbehörde den Antrag von X mit der Begründung ab, Y habe nicht nachgewiesen, dass er die vorgenannte Voraussetzung erfüllt habe, und es lägen keine besonderen Gründe vor, die eine Ausnahme hiervon rechtfertigen würden. Zudem werde diese Entscheidung durch die Stillhalteklauseln, wie sie der Gerichtshof in seiner Rechtsprechung ausgelegt habe, nicht in Frage gestellt.

X erhob eine Klage gegen die Ablehnung ihres Antrags auf eine Aufenthaltserlaubnis in Dänemark zur Familienzusammenführung, mit der das vorlegende Gericht, der Østre Landsret, befasst ist. Dieses Gericht möchte vom Gerichtshof wissen, ob Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 dahin auszulegen ist, dass eine nach dem Inkrafttreten dieses Beschlusses in dem betreffenden Mitgliedstaat eingeführte nationale Rechtsvorschrift – nach der die Familienzusammenführung zwischen einem türkischen Arbeitnehmer, der sich rechtmäßig in diesem Mitgliedstaat aufhält, und seinem Ehegatten an die Voraussetzung geknüpft wird, dass dieser Arbeitnehmer erfolgreich eine Prüfung ablegt, die Kenntnisse eines bestimmten Niveaus in der Amtssprache dieses Mitgliedstaats bescheinigt – eine „neue Beschränkung“ im Sinne dieses Artikels darstellt, und, wenn dies der Fall ist, ob eine solche Rechtsvorschrift mit dem Ziel gerechtfertigt werden kann, eine erfolgreiche Integration dieses Ehegatten zu gewährleisten.

In seinem Urteil stellt der Gerichtshof erstens fest, dass die fragliche dänische Rechtsvorschrift nach Inkrafttreten des Beschlusses Nr. 1/80 in Dänemark eingeführt wurde und im Bereich der Familienzusammenführung gegenüber den Voraussetzungen, die vor dem Inkrafttreten des Beschlusses Nr. 1/80 galten, die Voraussetzungen für die Einreise in dänisches Hoheitsgebiet für Personen verschärft hat, die mit türkischen Arbeitnehmern verheiratet sind, die sich rechtmäßig in diesem Mitgliedstaat aufhalten. Demnach stellt der Gerichtshof fest, dass die fragliche Rechtsvorschrift eine „neue Beschränkung“ im Sinne von Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 darstellt. Eine solche Rechtsvorschrift kann jedoch u. a. dann gerechtfertigt sein, wenn sie mit einem zwingenden Grund des Allgemeininteresses begründet wird, wenn sie geeignet ist, die Verwirklichung des verfolgten legitimen Ziels zu gewährleisten, und wenn sie nicht über das zu dessen Erreichung Erforderliche hinausgeht.

Die Gründe:
Der Gerichtshof stellt fest, dass den Ausführungen des vorlegenden Gerichts zufolge das mit der fraglichen dänischen Rechtsvorschrift verfolgte Ziel darin besteht, eine erfolgreiche Integration des Familienangehörigen zu gewährleisten, der die Gewährung eines Aufenthaltsrechts in Dänemark zum Zweck der Familienzusammenführung beantragt. Der Gerichtshof hat bereits entschieden, dass dieses Ziel im Hinblick auf den Beschluss Nr. 1/80 einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses darstellen kann. Allerdings weist der Gerichtshof darauf hin, dass zum einen die fragliche dänische Rechtsvorschrift nicht die eigene Integrationsfähigkeit des Familienangehörigen berücksichtigt, der die Familienzusammenführung beantragt, sondern ausschließlich auf der Prämisse beruht, dass dessen erfolgreiche Integration nicht hinreichend gewährleistet wird, wenn der von diesem Antrag betroffene türkische Arbeitnehmer die Voraussetzung, eine dänische Sprachprüfung bestanden zu haben, nicht erfüllt. Zum anderen erlaubt es die fragliche dänische Rechtsvorschrift den zuständigen Behörden auch nicht, bei der Beurteilung dessen, ob von der durch sie vorgeschriebenen Verpflichtung, eine Sprachprüfung erfolgreich abzulegen, abgewichen werden kann, Faktoren zu berücksichtigen, mit denen sich der Nachweis führen lässt, dass der türkische Arbeitnehmer, der von dem Antrag auf Familienzusammenführung betroffen ist, tatsächlich integriert ist, und somit der Tatsache Rechnung zu tragen, dass dieser Arbeitnehmer ungeachtet dessen, dass er diese Prüfung nicht bestanden hat, erforderlichenfalls zur Integration seines Familienangehörigen in diesem Mitgliedstaat beitragen kann.

Der Gerichtshof stellt somit fest, dass die fragliche dänische Rechtsvorschrift über das hinausgeht, was zur Erreichung des verfolgten Zieles erforderlich ist.

Der Gerichtshof kommt zu dem Ergebnis, dass Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 dahin auszulegen ist, dass eine nach dem Inkrafttreten dieses Beschlusses in dem betreffenden Mitgliedstaat eingeführte nationale Rechtsvorschrift, nach der die Familienzusammenführung zwischen einem türkischen Arbeitnehmer, der sich rechtmäßig in diesem Mitgliedstaat aufhält, und seinem Ehegatten an die Voraussetzung geknüpft wird, dass dieser Arbeitnehmer erfolgreich eine Prüfung ablegt, die Kenntnisse eines bestimmten Niveaus in der Amtssprache dieses Mitgliedstaats bescheinigt, eine „neue Beschränkung“ im Sinne dieser Bestimmung darstellt. Eine solche Beschränkung kann nicht mit dem Ziel gerechtfertigt werden, eine erfolgreiche Integration dieses Ehegatten zu gewährleisten. Denn diese Rechtsvorschrift erlaubt den zuständigen Behörden weder die Berücksichtigung der eigenen Integrationsfähigkeit des Ehegatten noch anderer Faktoren als eine solche bestandene Prüfung, die die tatsächliche Integration dieses Arbeitnehmers in dem betreffenden Mitgliedstaat und damit seine Fähigkeit, seinem Ehegatten bei der Integration in diesen Mitgliedstaat zu helfen, belegen.

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Verlag Dr. Otto Schmidt vom 03.01.2023 12:10
Quelle: EuGH PM Nr. 215 vom 22.12.2022

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