EuGH v. 15.11.2022 - C-646/20

Zur automatischen Anerkennung ausländischer außergerichtlicher Scheidungen

Der EuGH hat sich vorliegend mit der automatischen Anerkennung außergerichtlicher Ehescheidungen befasst. Eine von einem Standesbeamten eines Mitgliedstaats errichtete Scheidungsurkunde, die eine Vereinbarung der Ehegatten über die Ehescheidung enthält, die sie vor dem Standesbeamten getreu den in den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats vorgesehenen Bedingungen bestätigt haben, stellt eine Entscheidung im Sinne der Brüssel-IIa-Verordnung dar.

Der Sachverhalt:
Im Jahr 2013 heirateten TB, eine deutsche und italienische Staatsangehörige, und RD, ein italienischer Staatsangehöriger, in Deutschland. Im Anschluss an ein außergerichtliches Scheidungsverfahren nach italienischem Recht stellte ihnen im Jahr 2018 der befasste italienische Standesbeamte eine Bescheinigung über die Ehescheidung aus. Die deutschen Standesamtsbehörden verweigerten die Beurkundung dieser Scheidung wegen fehlender vorheriger Anerkennung durch die zuständige deutsche Landesjustizverwaltung.

Der mit der Sache befasste BGH sieht sich vor die Frage gestellt, ob der Entscheidungsbegriff der Brüssel-IIa-Verordnung über die Anerkennung von Entscheidungen über Ehescheidungen den Fall einer außergerichtlichen Scheidung erfasst, die durch eine von den Ehegatten geschlossene Vereinbarung bewirkt und von einem Standesbeamten eines Mitgliedstaats nach dessen Rechtsvorschriften ausgesprochen wurde.

Die Gründe:
Eine von einem Standesbeamten des Ursprungsmitgliedstaats errichtete Scheidungsurkunde, die eine Vereinbarung der Ehegatten über die Ehescheidung enthält, die sie vor dem Standesbeamten getreu den in den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats vorgesehenen Bedingungen bestätigt haben, stellt eine "Entscheidung" i.S.d. Brüssel-IIa-Verordnung dar.

In Ehescheidungssachen umfasst der Begriff "Entscheidung" im Sinne dieser Verordnung jede Entscheidung über eine Ehescheidung in einem gerichtlichen oder aber außergerichtlichen Verfahren, sofern das Recht der Mitgliedstaaten auch nicht gerichtlichen Behörden Zuständigkeiten in Ehescheidungssachen zuweist. Somit muss jede Entscheidung solcher nicht gerichtlichen Behörden, die in einem Mitgliedstaat in Ehescheidungssachen zuständig sind, automatisch anerkannt werden, sofern die in der Brüssel-IIa-Verordnung vorgesehenen Voraussetzungen erfüllt sind.

Der EuGH hat bereits entschieden, dass von der Brüssel-IIa-Verordnung nur Ehescheidungen erfasst werden, die entweder von einem staatlichen Gericht oder von einer öffentlichen Behörde oder unter deren Kontrolle ausgesprochen werden; dies schließt reine Privatscheidungen aus. Daraus ist abzuleiten, dass jede Behörde, die eine "Entscheidung" zu treffen hat, die Kontrolle über den Ausspruch der Ehescheidung behalten muss, was bei einvernehmlichen Ehescheidungen impliziert, dass sie eine Prüfung der Scheidungsvoraussetzungen anhand des nationalen Rechts vornehmen muss und prüfen muss, ob das Einvernehmen der Ehegatten über die Scheidung tatsächlich gegeben und gültig ist.

Dieses Prüfungserfordernis ist das Kriterium zur Abgrenzung des Begriffs "Entscheidung" von den ebenfalls in der Brüssel-IIa-Verordnung vorkommenden Begriffen "öffentliche Urkunde" und "Vereinbarung zwischen den Parteien". Dieses Kriterium wurde ebenso wie die Regelung für öffentliche Urkunden und Vereinbarungen zwischen den Parteien im Rahmen der Brüssel-IIb-Verordnung, die die Brüssel-IIa-Verordnung ab dem 1.8.2022 ersetzt hat, übernommen und präzisiert.

Vorliegend ist der Standesbeamte in Italien als gesetzlich eingesetzte Behörde dafür zuständig, die Ehescheidung rechtsverbindlich auszusprechen, indem er die von den Ehegatten aufgesetzte Scheidungsvereinbarung nach einer Prüfung in Schriftform beurkundet. Der Standesbeamte vergewissert sich nämlich, dass das Einvernehmen der Ehegatten zur Scheidung gültig, aus freien Stücken und in Kenntnis der Sachlage erteilt wird, und prüft auch den Inhalt der Ehescheidungsvereinbarung anhand der geltenden Rechtsvorschriften, indem er sich vergewissert, dass sich die Vereinbarung nur auf die Auflösung der Ehe oder die Beendigung der zivilen Wirkungen der Ehe bezieht und weder Vermögenswerte übertragen werden noch andere als volljährige wirtschaftlich unabhängige Kinder betroffen sind. Im Ergebnis handelt es sich somit um eine von den deutschen Standesamtsbehörden automatisch anzuerkennende "Entscheidung" i.S.d. Brüssel-IIa-Verordnung.

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Aufsatz:
Entwicklungen im europäischen Personen-, Familien- und Erbrecht 2021–2022
Christian Kohler / Walter Pintens, FamRZ 2022, 1405

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Verlag Dr. Otto Schmidt vom 15.11.2022 14:58
Quelle: EuGH PM Nr. 183 vom 15.11.2022

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